„Was hörgeschädigte Kinder und Jugendliche für eine gelingende Entwicklung brauchen …“

Dieser Frage stellten sich die knapp 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fortbildungsveranstaltung des BDH-Hessen am 09.11.2018 in der Johannes-Vatter-Schule in Friedberg. Der Landesverband Hessen des Berufsverbandes Deutscher Hörgeschädigtenpädagogen konnte in Zusammenarbeit mit der Schulsozialarbeit der Johannes-Vatter-Schule Herrn Prof. Dr. Manfred Hintermair für den Impulsvortrag sowie Michelle Mohring und Laura Henke für Erfahrungsberichte gewinnen, um gemeinsam nach Antworten zu suchen.

In einem informellen ersten Teil referierte Herr Prof. Dr. Hintermair über die Ergebnisse des Forschungsprojekts EGSB (Erfolgreiche Gehörlose und Schwerhörige Menschen im Beruf), das seit September 2013 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg unter der Leitung von Prof. Dr. Manfred Hintermair lief.

Übergeordnetes Ziel des EGSB-Projektes ist es, herauszufinden, welche Faktoren wesentlich dazu beitragen, dass gehörlose und schwerhörige Menschen beruflich erfolgreich sind. Bisherige wissenschaftliche Forschungen beschäftigten sich beispielsweise mit der Struktur und Didaktik der Berufsausbildung oder Situationen am Arbeitsplatz und machen große Defizite sichtbar. Das Projekt EGSB geht den umgekehrten Weg. Der Fokus wird auf diejenigen Faktoren gerichtet, die entscheidend zum beruflichen Erfolg von hörgeschädigten Menschen beigetragen haben. Theoretischer Hintergrund sind Konzepte, die die Stärken und Kompetenzen von Menschen ins Zentrum stellen, beispielsweise der Empowerment-Ansatz.

Die Einzelkompetenzen wurden nach sogenannten Soft Skills und Hard Skills unterschieden. Soft Skills beschreiben Kompetenzen, die nicht in einer Ausbildung gelernt werden, sondern mit der Persönlichkeit eines Menschen, dessen Eigenschaften und Verhaltensweisen zusammenhängen. Hard Skills umfassen dagegen Fachwissen und Qualifikationen. Es stellte sich heraus, dass die Soft Skills insgesamt bedeutsamer als die Hart Skills sind.

Doch welche Aspekte und Konsequenzen können aus diesen Ergebnissen in die Gestaltung von Erziehungs- und Förderprozessen gehörloser und hörgeschädigter Kinder in die Gegenwart übertragen werden? Welchen Herausforderungen sollte sich die Hörgeschädigtenpädagogik stellen?

Die bedeutsamen Kompetenzen können nicht nach dem Schulabschluss und beim Berufsanfang erworben werden. Die Kompetenzen müssen bereits in der Kindheit angelegt werden. Daher ist es neben den Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen genauso wichtig, die persönlichen und sozialen Kompetenzen sowie dem das Selbstwertgefühl der Gehörlosen und Schwerhörigen sehr früh zu stärken. Dabei spielt die Auseinandersetzung und die Haltung zur Hörschädigung eine bedeutende Rolle. Ohne Selbstkompetenz sind auch schulische und berufliche Kompetenzen nicht für den Erfolg ausreichend.

Zu Beginn schafft eine familienzentrierte Frühförderung die Grundlage für die Entfaltung wichtiger kognitiver, sprachlicher und sozial-emotionaler Kompetenzen und kann die Eltern entsprechend stärken. Eltern von gehörlosen und schwerhörigen Kindern sollten von Anfang an darin unterstützt werden, sich mit der Hörbehinderung ihres Kindes auseinandersetzen. Eltern sollen besonders darin unterstützt werden, ihrem Kind ein Zutrauen in seine Fähigkeiten zu vermitteln. Kontakte zu anderen Familien mit gehörlosen/schwerhörigen Kindern sowie zu gehörlosen/schwerhörigen Gleichaltrigen wie auch zu erwachsenen Menschen mit einer Hörbehinderung unterstützen die Familie und fördern das gehörlose/schwerhörige Kind in der Entwicklung einer positiven Identität.

In den vorschulischen und schulischen Angeboten muss sich diese Haltung und Einstellung fortsetzen.

Ein gutes Bildungsangebot mit hochwertigen Schulabschlüssen benötigt qualifiziertes pädagogisches Personal mit spezifischen Kompetenzen bezüglich der Bedürfnisse von gehörlosen und schwerhörigen Kindern. Die Bildungsangebote (in Regelschule wie in Förderzentren) müssen die besondere Wahrnehmungs- und Kommunikationssituation gehörloser und schwerhöriger Kinder berücksichtigen. Dabei ist die Einbeziehung sogenannter „deaf role models“ für die stärkenorientierte Pädagogik wichtig.

 

Im zweiten Teil der Veranstaltung berichteten Laura Henke und Michelle Mohring sehr eindrucksvoll von ihren persönlichen Erfahrungen im vorschulischen, schulischen und beruflichen Bereich.

Laura Henke ist seit Geburt gehörlos. Sie wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Laura kommunizierte mit ihren Eltern in Deutscher Gebärdensprache. Sie wurde an der Schule für Hörgeschädigte und später im RWB Essen beschult, bevor sie in Frankfurt ihr Studium der Sozialen Arbeit „Bachelor of Arts“ begann. Sie berichtete von den Schwierigkeiten während ihres Abiturs. Nicht alle Lehrkräfte seinen DGS-kompetent gewesen. Daher habe sie während dieser Zeit häufig das Gefühl gehabt, ausgeschlossen zu sein und nicht akzeptiert zu werden. LBG vermittele nicht zu 100% den Inhalt. Sie fordert von der Hörgeschädigtenpädagogik, dass die DGS von den Lehrkräften anerkannt, gefördert und beherrscht werde. Man müsse sich der Identitätsentwicklung gehörloser und hörgeschädigter Kinder bewusst sein und wissen, was die Folgen von reiner Kommunikation in LBG oder Lautsprache im Vergleich zur DGS seinen. Mit der DGS sollten die Bildungsmöglichkeiten mehr gefördert und den Kindern mehr Chancen gegeben werden. Dies bedeute aber auch, dass den Fachkräften Unterstützung gegeben werden müsse die DGS zu erlernen.

 

Michelle Mohring ist mittel-hochgradig hörgeschädigt und mit einem Hörgerät sowie einem CI versorgt. Sie wuchs lautsprachlich auf. Sie wurde Inklusiv beschult und studiert derzeit an der PH Heidelberg Förderschullehramt. Ihre schulischen Erfahrungen sind positiv geprägt. Die VoMa-Kollegen der Schule am Sommerhoffpark unterstützten sie während ihrer schulischen Laufbahn. Sie betonte sehr, dass es dabei wichtig sei, genügend Zeit für die zwischenmenschliche Beziehung und Beratung zu haben. So könne das Selbstbewusstsein der Schüler gestärkt und die Identität mit der eigenen Hörbehinderung geschult werden. Michelle Mohring sagt: „Ja, ich bin behindert, aber ich werde auch durch die Bedingungen behindert!“ Eine negative Erfahrung machte Michelle während eines Praktikums in einer Regelklasse. Dort hatte sie keine technische Unterstützung und die Raumakustik sei miserabel gewesen. Dies zeigte ihr, dass technische Unterstützungen sowie die entsprechenden raumakustischen Maßnahmen für sie notwendig seien. Michelle hob hervor, dass die Betroffenen für ihre Bedürfnisse einstehen müssen. Die Hörschädigung darf aus Sicht der Hörenden nicht mit Unfähigkeit verwechselt werden. Michelle nahm regelmäßig an Veranstaltungen der DCIG teil und engagierte sich in der Bundesjugend. Dort lernte sie andere hörgeschädigte Kinder und Jugendliche kennen. Seminare von Peter Dieler stärkten ihr Selbstvertrauen.

Den eindrucksvollen zweiten Teil der Veranstaltung beendete Michelle mit dem Zitat von R. Niebuhr:

Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

 

Im abschließenden Teil nutzten die Teilnehmer die Möglichkeit, den beiden Referentinnen im Rahmen einer Podiumsdiskussion Fragen zu stellen und in die Diskussion über die benannten Bedürfnisse, Stolpersteine und Gelingensbedingungen zu treten.

Die etwa 50 Teilnehmerinnen meldeten durchweg positive Eindrücke zur Veranstaltung zurück. Die Erwartungen, die durch die Einladung geweckt wurden, konnten durchgängig erfüllt werden.

Nicht vergessen möchte ich an dieser Stelle, Lisa Obermeier für die Organisation der Fortbildungsveranstaltung sowie der Schülerfirma der Johannes-Vatter-Schule ganz herzlich zu danken. Die Schülerfirma sorgte wie immer bei unseren Veranstaltungen für einen leckeren Imbiss und bescherte den Teilnehmern damit eine entspannte Mittagspause.